Als ich vor einigen Jahren in meine Arbeit als Legasthenietrainerin eingestiegen bin, hatte ich eine klare Vorstellung davon, wie ich Kindern und ihren Familien helfen wollte. Doch manchmal sind es gerade die Erfahrungen, die unsere Perspektive verändern und uns dazu bringen, unsere Herangehensweise zu überdenken.
Ein für mich prägendes Erlebnis war der Anruf einer besorgten Mutter. Sie erzählte mir von ihrer Tochter, die gerade die erste Klasse besuchte. Die Lehrerin äußerte Bedenken hinsichtlich einer möglichen Legasthenie, da das Kind Schwierigkeiten in der Rechtschreibung und beim Lesen zeigte. Der Familie wurde eine professioneller Unterstützung empfohlen. In dem Moment, als ich die Worte der Mutter hörte, durchliefen mich viele Gedanken. Diese Aussagen brachten mich innerlich zum Kochen.
Ein Kind in diesem Alter befindet sich gerade erst am Anfang seines Schriftspracherwerbs. Viele Buchstaben sind noch nicht einmal erarbeitet, geschweige denn gefestigt. Es ist wichtig zu verstehen, dass Legasthenie nicht dasselbe ist wie eine Lese-Rechtschreibschwäche. Legasthenie ist genetisch bedingt und erfordert eine ganzheitliche Lernbegleitung, während eine Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) auf erworbene Umwelteinflüsse zurückzuführen ist und durch gezieltes Üben überwunden werden kann.
Ich konnte die Mutter beruhigen und sie davon überzeugen, dass zu diesem Zeitpunkt kein spezielles Training notwendig war. Doch leider blieb es nicht bei diesem einen Anruf. Weitere Anfragen folgten, alle von Eltern aus derselben Schule, für Kinder derselben Altersgruppe, mit denselben Anliegen. Diese Anrufe bewegten mich dazu, meine Trainingsangebote zu beenden. Ich wollte nicht dazu beitragen, einen bedenklichen Trend im Schulsystem zu verstärken.
Heute sehe ich vieles anders. Motivierte Lehrer:innen versuchen Neues zu gestalten und Bestehendes zu verändern, stoßen jedoch immer wieder an die Grenzen eines starren und altmodischen Schulsystems. Ich möchte nicht darauf warten, bis sich etwas ändert. Stattdessen möchte ich dazu beitragen, Eltern und Lehrpersonen dabei zu unterstützen, die Stärken ihrer Kinder zu erkennen und ihre Potenziale zu entfalten. Vor allem wünsche ich mir, dass sie zu großartigen und wertschätzenden Persönlichkeiten heranwachsen können.
Es ist wichtig, dass wir alle gemeinsam daran arbeiten, das Bewusstsein für die Vielfalt der Lernunterschiede zu schärfen und sicherzustellen, dass jedes Kind die Chance erhält, sein volles Potenzial zu entfalten. Möge diese Erfahrung uns alle dazu ermutigen, mit offenen Augen und Herzen auf die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes einzugehen und so eine unterstützende und inklusive Lernumgebung zu schaffen.
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